Ein Leben für das Staatsrecht: Zum Abschied von Günther Winkler (1929–2024)

Am 25. Oktober 2024 ist em. o. UnivProf. Dr. DDr. h.c. Günther Winkler, der Doyen der österreichischen Staatsrechtslehre, unerwartet im 96. Lebensjahr verstorben. Ein reiches und langes Leben eines Wissenschaftlers, Universitätsfunktionärs und Diplomaten ist zu Ende gegangen.

Auf die Kindheit und Schulzeit in Kärnten folgten Studium, Assistentenzeit und Habilitation in Innsbruck. Den erst 27jährigen Dozenten zog es im Jahr 1956 an die Wiener Rechtswissenschaftliche Fakultät, der er fast sieben Jahrzehnte angehörte, davon knapp vierzig Jahre als Professor. Er war Wissenschaftsmanager im besten Sinn des Wortes, bekleidete alle akademischen Ämter: Dekan, Rektor, Vorsitzender der Rektorenkonferenz. Als Baubeauftragter für das Juridicum war er dafür verantwortlich, dass die größte Juristenfakultät im deutschsprachigen Raum ein adäquates Gebäude erhielt. Er selbst ist nach seiner Aktivzeit im Institut für Römisches Recht, erst gegenüber in der Heßgasse, dann in der Schenkenstraße, als aktiver Emeritus über zwanzig Jahre lang heimisch geworden. Er fühlte sich dort ausgesprochen wohl. Dort schrieb er auch noch ein eigenes Buch über die Baugeschichte und das Gebäude des Juridicums; in seinem letzten Interview, das er aus Anlass des 40jährigen Jubiläums des Gebäudes wenige Tage vor seinem Tod dem Rechtshistoriker Milos Vec gab, machte er noch einmal seine Vision eines modernen, an den Bedürfnissen der Studierenden orientierten Universitätsbaus deutlich.

Winklers Forschungsleistungen kommen in – gleichwohl beeindruckenden – Zahlen nur teilweise zum Ausdruck: Rund 30 Monographien und rund 100 Aufsätze weist sein Publikationsverzeichnis auf. Seine Arbeiten umfassten die gesamte Spannweite des Öffentlichen Rechts vom konkreten verwaltungsrechtlichen Problem über das Allgemeine Verwaltungsrecht, das Staatsorganisationsrecht und die Grundrechte bis hin zur Rechts- und Erkenntnistheorie. Das Recht war für Winkler von Anfang an ein anschaulicher, erfahrbarer, ein empirisch-rational erfassbarer Gegenstand. Das Auffinden bewährter Denkformen und der Nachweis ihrer Anwendbarkeit auf das juristische Denken in Theorie und Praxis waren ihm ein Anliegen. Wichtigste Voraussetzung seiner Arbeiten war eine gegenstandsgerechte Vorstellung vom positiven Recht. Das Bemühen um die erkenntnistheoretische Fundierung seiner methodologischen Grundposition kann als Charakteristikum seiner Forschungen angesehen werden. Anfangs war Winkler noch von der „Reinen Rechtslehre“ fasziniert. Über die Jahre wurde er gegenüber der Kelsenschen Denkweise aber zunehmend kritisch, in seinen jüngeren theoretischen Schriften mündet die Kritik in Ablehnung.

Sein wirklichkeitsorientiertes teleologisches Rechtsdenken wurde bereits in seinen frühen Studien deutlich, zu nennen ist neben der Habilitationsschrift „Der Bescheid“ (1956) vor allem die Studie zur absoluten Nichtigkeit von Verwaltungsakten (1960). Winklers methodologische Fokussierung auf Sinn und Zweck, als dem Recht immanente Werthaftigkeit, bereitete manchen Wandel in Lehre und Rechtsprechung vor. Seine Schrift zu „Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen“ (1969) kann als frühe Wegbereiterin der in den Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhundertes Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zu den materiellen Schranken für Grundrechtseingriffe gelten. Mit seiner Studie „Gesetzgebung und Verwaltung im Wirtschaftsrecht“ begründete er die Lehre vom „differenzierten Legalitätsprinzip“, die unterschiedliche Determinierungsanforderungen je nach Sachgebiet annimmt – heute ist diese Einsicht Allgemeingut und weiter differenziert. Mitte der achtziger Jahre begann eine Phase, in der sich Winkler wieder Grundfragen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, der Rechtstheorie, der Erkenntnistheorie und der Methodenlehre widmete. Die Studien über die „Rechtspersönlichkeit der Universitäten“ (1988), über „Rechtstheorie und Erkenntnislehre“ (1990), „Zeit und Recht“ (1995) und über „Raum und Recht“ (1999) seien stellvertretend genannt.

In den zwei Jahrzehnten nach seiner Emeritierung widmete er sich mit großem Elan aktuellen Fragen, die ihm auch jenseits der streng juristischen Analyse nicht gleichgültig waren, seien es die Sanktionen der „Vierzehn“ gegen Österreich im Jahr 2000, das Vorgehen des Europarates in der Liechtensteinischen Verfassungsreformdebatte, die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zu zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten oder das Glücksspielmonopol. Wenigstens eine Monographie zu jedem dieser Themen war der sichtbare Ausdruck der ungebrochenen Schaffenskraft. Wie die meisten seiner Bücher erschienen sie übrigens in „seiner grauen Reihe“ – den „Forschungen aus Staat und Recht“, die Winkler aus den Erfahrungen um die Schwierigkeiten der Publikation seiner eigenen Habilitationsschrift heraus gründete. In ihr finden sich fast alle Habilitationsschriften im Öffentlichen Recht der letzten vierzig Jahre, daneben einige Dissertationen, aber eben auch Monographien mit rechtstheoretischem Anspruch und Sammlungen von Schriften verdienter Öffentlich-Rechtler. Nach rund 200 Bänden besteht kein Zweifel am bleibenden Verdienst Winklers, mit den „Forschungen“ die Schriftenreihe im österreichischen Öffentlichen Recht geschaffen und damit auch den wissenschaftlichen Nachwuchs gefördert zu haben.

Günther Winkler war ein begeisterter Lehrer, ob im Auditorium Maximum mit Grundbegriffen von Recht und Staat oder später mit seiner Vorlesung zur Allgemeinen Staatslehre. Es waren keine Vor-Lesungen, sondern Veranstaltungen im lebendigen Vortrag, ergänzt um Fragen an die Studierenden. Nicht selten deklamierte er mitten im Vortrag ein Morgenstern-Gedicht. Winkler suchte den persönlichen Kontakt zu den Studierenden, forderte sie heraus, auch zu einem Zeitpunkt, da es die Massenuniversität kaum noch zuließ. Sein Herz galt aber den Seminaren über Theorie und Methode der Rechtswissenschaft, die er von 1957 bis zu seiner Emeritierung hielt. Diese Seminare hatten lange Zeit Hans Kelsens Reine Rechtslehre zum Gegenstand und sie boten ein Diskussionsforum für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Sie befruchteten Winklers methodologische Reflexion, sein jahrzehntelanges Bemühen um den eigenen Standpunkt.

Günther Winkler erwarb sich wesentliche Verdienste um die internationalen Beziehungen, nicht nur Österreichs, sondern darüber hinaus. Ab dem Jahr 1973 war er als Präsident des zu diesem Zweck gegründeten Instituts für Chinesische Kultur in Wien – später Liaison Office zur IAEA, Taipei Wirtschafts- und Kulturbüro genannt – als eine gemeinsame Einrichtung für beide Länder tätig. Über Jahrzehnte war Winkler mit der Pflege und Förderung bilateraler administrativer, wirtschaftlicher und kultureller Belange zwischen den zwei Ländern befasst.

Winklers Pflege der praktischen Beziehungen zwischen Österreich und Taiwan verstärkte sein Interesse an der chinesischen Kultur, vor allem am chinesischen Kunsthandwerk. Dieses Interesse fand seinen sichtbaren Niederschlag in einer von ihm ab dem Jahr 1980 aufgebauten Sammlung von ausgewählten Gegenständen, Zeugnisse für die über fünftausend Jahre des chinesischen Kunsthandwerks (Porzellan und Tonwaren, Bronzen, Email, Jade-, Elfenbein- und Holzschnitzereien). Die auf über tausend Gegenstände angewachsene Sammlung war zunächst von 1980 bis 2008 im Benediktinerstift St. Paul im Lavanttal ausgestellt, seit dem Jahr 2008 befindet sie sich in moderner musealer Präsentation neben dem Handwerksmuseum in der Ortenburg in seiner Kärntner Heimatgemeinde Baldramsdorf.

Günther Winkler blieb sein Leben lang Junggeselle und er war ein geselliger Mensch. In jüngeren Jahren ist er nach dem Besuch eines Balls manchmal sehr früh an der Universität in der eleganten Kleidung des Vorabends erschienen. Unter den Bällen war der Juristenball „sein“ Ball. Mit der ihm eigenen Eleganz und hoch dekoriert zog er zur Balleröffnung viele Male gemeinsam mit der langjährigen Ballorganisatorin Frau Mag. Schöner in den Festsaal der Hofburg ein. Damen aller Generationen wissen von einem geübten Tänzer zu berichten. In seiner Loge im Festsaal empfing er jahrzehntelang internationale Gäste, höchste Repräsentanten der Republik, Freunde und Schüler.

In der Folge eines größeren kardiologischen Eingriffs kurz nach seinem 90. Geburtstag wurde Günther Winklers Bewegungsradius kleiner. Er lebte zurückgezogen südlich von Wien bei einer befreundeten Familie, die ihn liebevoll aufnahm und versorgte. Nur selten empfing er noch Besuche, aber die Kommunikation mit seinen Schülern, Freunden und Weggefährten blieb über das Smartphone bis in die letzten Stunden aufrecht.

Die kräftige Stimme, die einst das Auditorium Maximum an der Wiener Ringstraße und die Hörsäle im Juridicum jahrzehntelang gut ausgefüllt hatte, wurde in diesen letzten Lebensjahren leiser, manches Urteil fiel milder aus. Aber dieses Urteil war uns, den Jüngeren und Nachkommenden, in jeder Phase wichtig. Und es wird uns wichtig bleiben, jetzt, da die Stimme ganz verstummt ist.

Christoph Grabenwarter